Selbstunsicherheit

Ursachen für ein selbst­unsicheres, ängst­liches, schüchternes Verhalten

Je nach Veranlagung und Prägung unter­scheiden sich Menschen in ihrem Sozial- und Beziehungs­verhalten. Auf der einen Seite der Skala sind die schüchternen, ängstlich-vermeidenden, intro­vertierten, kontakt­scheuen Menschen, auf der andern Seite die drauf­gängerischen, extro­vertierten, kontakt­freudigen Menschen.

Die meisten Menschen befinden sich eher in der Mitte und haben je nach Lebens­bereich sowohl introvertierte, schüchterne, vorsichtige als auch extro­vertierte, drauf­gängerische Persön­lich­keits­anteile.

Selbstunsicherheit, Schüchternheit, Sozialangst und situative Angst kann also nicht direkt mit einem gestörten Sozial- und Beziehungs­verhalten assoziiert werden. Allerdings kann eine über­mäßige Selbst­unsicher­heit, Schüchtern­heit und Ängstlich­keit auf Defizite und Probleme in folgenden Bereichen hinweisen:

  1. Kompetenz­ent­wicklung und Potential­ent­faltung
  2. Autonomie- und Identitätsentwicklung
  3. Bindungsentwicklung

1. Verunsicherung durch fehlende Kompetenzen und eingeschränkte Potential­entfaltung

Defizite in der Kompetenz­ent­wicklung und Potential­entfaltung können sich beträchtlich auf das Selbstvertrauen auswirken. Insbesondere wenn die erforderlichen akademischen, personalen und sozial-kommunikativen Schlüssel­kompetenzen (Soft Skills) nicht ausreichend entwickelt sind, kommt es in Ausbildung und Beruf häufig zu Schwierig­keiten, Misserfolgen und Selbstzweifeln. In der Folge kann daraus ein regelrechter Negativ­kreislauf mit zunehmender Verunsicherung und Rückzugs­tendenz entstehen.

Zur Weiterent­wicklung der erforderlichen Fachkompetenzen und Soft Skills reichen aber meist schon die entsprechenden Aus- und Weiter­bildungs­angebote. Auch ein Coaching zur gezielten Kompetenz­entwicklung und Potentialent­faltung kann ganz gut weiter­helfen.

Für die sichere Bewältigung schwieriger kommunikativer Situationen und einen besseren Umgang mit der Redeangst beim Präsentieren, bietet sich die professionell angeleitete Weiter­ent­wicklung der Kommunikations­kompetenz im Rahmen eines Kommunikations­trainings an.

2. Soziale Angst aufgrund eines Autonomie­konflikts

Die Sozialangst bzw. soziale Phobie wird den neurotischen Störungen zugeordnet. Psychodynamisch betrachtet liegt einer Angst­neurose ein unlös­barer Autonomie­konflikt zugrunde, der auf Wider­sprüche und Verunsicherungen in der kindlichen Entwicklung zurück­zuführen ist.

Dabei geht es vor allem um den Wider­spruch zwischen dem Bedürfnis nach der selbst­bestimmten Erfüllung der eigenen Trieb­wünsche einerseits und den familiären und gesellschaft­lichen Wert­haltungen andererseits. Auch die (wohlgemeinte) Macht­aus­übung der Bezugs­personen mittels Belohnung und Bestrafung kann die gesunde Entwicklung von Selbst­bestimmung und Selbst­ver­trauen massiv beeinträchtigen und zu neurotischen Störungen führen.

Bei einer neurotischen Störung handelt es sich aber nicht um eine sogenannte frühe Störung in der kindlichen Entwicklung, sondern der innere Konflikt entsteht meist erst im Leben­salter, wenn Werte wie soziale Konformität, Leistungs­bereit­schaft, Sorgfalt, Verantwortungs­­bewusst­­sein, Zuver­lässig­keit, etc. relevant werden.

Das Kind (und später der Erwachsene) passt sich mehr oder weniger den vorgegebenen Normen, Werthaltungen und Moral­vorstellungen an, was zur Folge hat, dass die Freiheit für die wahre Identität mehr oder weniger fehlt. Dieses funktionieren müssen in einer (vermeintlich) erwünschten sozialen Rolle kann enorme Stress- und Angstzustände verursachen.

Ein wesentliches Merkmal einer neurotischen Angststörung ist, dass sich die Betroffenen der Irrealität ihrer Befürchtungen bzw. ihrer übersteigerten ängstlichen Reaktion bewusst sind – im Gegensatz zu pathologischen Ängsten bei schweren Störungen.

Eine Angststörung kann mit Psychotherapie oder klinisch-psycho­logischer Behandlung in den meisten Fällen rasch und unkompliziert bearbeitet werden.

3. Selbstunsicher­heit auf­grund einer Selbstwert- und Bindungs­problematik

Liegt die Ursache der Selbst­unsicher­heit, Schüchtern­heit und Ängstlich­keit hingegen in der frühen kindlichen Entwicklung, braucht es für die Bearbeitung der zugrunde liegenden Selbst­wert- und Bindungs­problematik eine längere Psychotherapie.

Das ängstlich-vermeidende Beziehungs­verhalten der selbst­unsicheren Persönlichkeit

Die Diagnose der ängstlich-vermeidenden (selbstunsicheren) Persönlich­keits­störung erhalten Menschen, die ein besonders ängstliches, selbst­unsicheres und vermeidendens Beziehungs- und Bindungs­verhalten zeigen. Die Problematik wird haufig auch mit den Begriffen Bindungs­angst und Bindungs­konflikt beschrieben.

Generell ist bei den Betroffenen eine leicht depressive Grund­haltung zu beobachten, die vor allem von Minder­wertig­keits­gefühlen, Besorgtheit, Anspannung und Einsamkeit geprägt ist. Viele Betroffene fühlen sich unbeholfen, gehemmt und unattraktiv. Sie kommen schnell in Verlegen­heit und erröten leicht. Risiken alltäglicher Situationen werden überbewertet, wodurch es oft zur Vermeidung bestimmter Aktivitäten kommt.

Auffällig ist der Widerspruch zwischen beständiger Sehnsucht nach Nähe, Zuneigung und Akzeptanz einerseits und der großen Angst vor Enttäuschungen und Zurück­weisungen andererseits. In der Folge vermeiden sie es, Kontakt aufzu­nehmen und sich auf neue Beziehungen einzulassen. Dadurch bleiben die Betroffenen oft längere Zeit ohne Liebes­beziehung.

Wenn sich doch eine Beziehung ergibt, dann wird nicht selten das Beziehungs­ende selbst provoziert. Weil diese vermeidende Beziehungs­dynamik unbewusst erfolgt, wird die negative Haltung zu Beziehungen bestätigt.

Positive Persönlichkeits­merkmale selbst­unsicherer Menschen

Von den anderen Menschen werden die Betroffenen meist als nett und sensibel empfunden, weil sie zurückhaltend-bescheiden sind und sich bei Konflikten eher um Ausgleich bemühen. Aufgrund ihrer selbstkritischen Haltung können Betroffene von Selbstunsicher­heit leichter persönliche Einstellungen revidieren, sobald sie Widersprüche wahrnehmen.

Die soziale Distanz und ihr überdurch­schnittliches Freiheits­bedürfnis ermöglicht ihnen eine objektive und kritische Betrachtung gesellschaft­licher Zustände und Entwicklungen. Auch ihr Pessimismus hat positive Seiten, denn ihre übermäßige Besorgtheit motiviert sie zum voraus­schauenden, strategischen Denken und zu mehr Vorsicht im Leben.

Ursache von Selbst­unsicher­heit und Bindungs­angst

Meist entsteht die Selbstwert- und Bindungs­problematik in den ersten vier Lebens­jahren und sitzt deshalb sehr tief in der Psyche der Betroffenen. Als maßgebliche Ursache wird eine frühe Kindheit vermutet, in der die primäre Bezugsperson überfordert oder depressiv war und dadurch das kleine Kind keine sichere Bindung entwickeln konnte.

Abgrenzung zur Sozialphobie

Zu unterscheiden ist zwischen selbst­unsicherer Persönlich­keits­störung und sozialer Angst­störung. Betroffene von Sozialangst verhalten sich ängstlich-vermeidend hinsichtlich bestimmter Situationen der sozialen Interaktion, während Betroffene einer tieferen Selbst­unsicher­heit ängstlich-vermeidend hinsichtlich zwischen­menschlicher Beziehungen sind.

Behandlung

Diese eher leichte Form einer Persönlich­keits­störung kann mit Psychotherapie gut behandelt werden, denn im Gegen­satz zu einer kompensierten Selbst­wert­problematik wie der narzisstischen Persönlich­keits­störung sind bei der ängstlich-vermeidenden Persönlich­keits­störung das Selbstwert­defizit und die Bindungs­angst deutlich sichtbar und den Betroffenen bewusst.

In den meisten Fällen ist allerings eine längere Psychotherapie erforderlich und im therapeutischen Prozess sind spezifische Behandlungs­faktoren zu beachten. Entscheidend für den Behandlungs­erfolg sind 1) eine stimmige therapeutische Beziehung und 2) das Dranbleiben an der Therapie bei den praktisch immer auftretenden Therapiekrisen.